Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). Herausgegeben von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam. Erste Abteilung: Werke. Artikel. Entwürfe. Band 5: Karl Marx, Friedrich Engels: Deutsche Ideologie. Manuskripte und Drucke. Bearbeitet von Ulrich Pagel, Gerald Hubmann und Christine Weckwerth. Berlin, Boston: De Gruyter Akademie Forschung 2017. 2 Bde. XII, 1894 Seiten. 219 Euro. ISBN 978-3-11-048577-6.
Die im Staatsmarxismus kanonisch vertretene Auffassung lautet(e), dass Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ den historischen Materialismus ausgearbeitet und damit in diesem großen Werk zugleich die philosophischen, theoretischen Grundlagen des Marxismus und der marxistischen Partei formuliert hätten. Die grundlegenden Leitsätze des historischen Materialismus würden insbesondere in der Auseinandersetzung mit Ludwig Feuerbach entwickelt.
Allerdings haben Marx und Engels auf die Publikation dieses vermeintlich grundlegenden Werkes verzichtet. Erst nach einem deutsch-sowjetischen Wettlauf um die Erstveröffentlichung sind seit den 1930er Jahren unterschiedliche Textausgaben im Umlauf – allein vom Kapitel „I. Feuerbach“ existiert mittlerweile ein knappes Dutzend Versionen. Diese Abweichungen der Editionen haben ihren Grund darin, dass ein abgeschlossenes Werk „Die deutsche Ideologie“ nicht vorliegt. Überliefert ist nicht einmal ein geschlossenes Konvolut von Handschriften, sondern lediglich fragmentarische und bereits zu Lebzeiten stellenweise – u. a. durch Mäusefraß: die berühmt gewordene „nagende Kritik der Mäuse“ (Marx) – stark zerstörte Manuskripte. Diese wurden in bisherigen Ausgaben durch Textkompilationen der jeweiligen Herausgeber zu einem Werk „Die deutsche Ideologie“ zusammengestellt, obgleich sich dieser Titel in den Handschriften nicht findet. Besonders gravierende Folgen hatte dabei die Konstitution eines Kapitels „I. Feuerbach“ aus sechs separaten Manuskripten, die ver¬schiedene Herausgeber in der Absicht vornahmen, die Grundlegung des „historischen Materialismus“ durch Marx und Engels zu rekonstruieren; auch dieser Begriff kommt in den Handschriften zur „Deutschen Ideologie“ nicht vor.
Im nun vorliegenden Band I/5 der MEGA werden die insgesamt 17 Handschriften und zwei Drucke des Komplexes „Deutsche Ideologie“ erstmals vollständig in historisch-kritischer Form ediert. Neben dieser authentischen Textwiedergabe – die etwa 500 Seiten mit Textvarianten einschließt – werden die komplexen intertextuellen Zusammenhänge, die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichten der Manuskripte sowie die zeitgenössischen Veröffentlichungsversuche durch Marx und Engels umfassend dargestellt. Der Band eröffnet damit völlig neue Einblicke in die Entstehungsphase der materialistischen Geschichtsauffassung.
So konnte gezeigt werden, dass Marx und Engels die Manuskripte zur „deutschen Ideologie“ gar nicht im Rahmen eines Buch-, sondern vielmehr eines Zeitschriftenprojektes verfassten, an dem auch andere Autoren (Moses Heß, Georg Weerth, Wilhelm Weitling u.a.) beteiligt waren. Aus diesem Grund kommt im vorliegenden Band erstmals ein von Roland Daniels verfasstes Manuskript zum Abdruck, das von Marx und Engels für die geplante Quartalsschrift redigiert wurde. In inhaltlicher Hinsicht war zunächst nicht die systematische Ausarbeitung eigener theoretischer Positionen, sondern stattdessen die polemisch geführte Auseinandersetzung mit junghegelianischen und sozialistischen Zeitgenossen das Anliegen. Im Fokus der Kritik von Marx und Engels stand dabei allerdings nicht Feuerbach (wie bislang zumeist angenommen), sondern Max Stirner, der Autor des radikal-individualistischen Werkes „Der Einzige und sein Eigentum“. Es konnte nachgewiesen werden, dass der Großteil dessen, was den Rezipienten des vergangenen Jahrhunderts als Kapitel „I. Feuerbach“ präsentiert wurde, ursprünglich in Auseinandersetzung mit Stirner niedergeschrieben wurde. Dies gilt auch für die Genese solch zentraler Begrifflichkeiten wie „Ideologie“ und „Kleinbürger“. Zudem finden sich hier zahlreiche Exkurse, in denen Marx und Engels ihre eigenen Positionen darlegen (Darstellungen der geschichtlichen Entwicklung des deutschen Bürgertums, des Verhältnisses von geistiger zu materieller Herrschaft und der Geschichte des Privateigentums). Erst im Laufe dieser Auseinandersetzung trafen Marx und Engels die Entscheidung, ihre Auffassung in einem eigenständigen Kapitel darzulegen und mit einer Kritik Feuerbachs zu verbinden. Zu diesem Zweck gliederten sie zentrale Textteile der Stirner- und Bauer-Kritik aus den Kontexten ihrer Abfassung aus. Diese Textentwicklungen werden im Apparatband detailliert dokumentiert. Durch den textkritischen Apparat mit seiner diskursiven Variantendarbietung wird der Abfassungsprozess transparent und insbesondere auch die intensive Zusammenarbeit von Marx und Engels an den Manuskripten nachvollziehbar.
In Band I/5 der MEGA werden erstmals die wechselnden publizistischen Arrangements aufgearbeitet, innerhalb deren die Manuskripte veröffentlicht werden sollten. Nach dem Scheitern der anfänglich geplanten Vierteljahrsschrift versuchten Marx und Engels bis in den Spätsommer des Jahres 1847 hinein erfolglos, zwei- bzw. einbändige Separatpublikationen zu realisieren. Neben der Darstellung der zeitgeschichtlichen Kontexte der Abfassung der Manuskripte und der Verzeichnung der Textvarianten bietet der Apparatband eine Chronologie der Arbeit an den einzelnen Manuskripten, sodass erstmals die Weiterentwicklung und Präzisierung der eigenen Positionen von einem Manuskript zum anderen – oder sogar innerhalb eines Manuskriptes – für den Leser zu erschließen ist. Die erläuternde Kommentierung zeigt schließlich u.a., wo Marx und Engels bei der Abfassung der Manuskripte auf Materialien ihrer Exzerpthefte zurückgegriffen haben und etwa die Ergebnisse ihrer nationalökonomischen Studien in die Kritik junghegelianischer und sozialistischer Zeitgenossen einarbeiteten.
Abgerundet wird die textkritische Aufarbeitung und Kommentierung mit einer Darstellung der Überlieferungs- und Editionsgeschichte der Manuskripte, die Aufschluss darüber gibt, wie aus unvollendeten, zu Lebzeiten unveröffentlichten Manuskripten vor dem Hintergrund der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts ein Gründungswerk des „historischen Materialismus“ werden konnte. Im Ergebnis der textphilologischen Arbeit ist nunmehr erstmals ein vollständiger Einblick in die Genese und authentische Textgestalt der Geschichtsauffassung von Marx und Engels möglich, und es zeigt sich, dass letztere kein Ergebnis genuiner Theoriebildung ist, sondern ihre Entstehung aus dem junghegelianischen und frühsozialistischen Debattenkontext des Vormärz zu verstehen ist. Anstelle der in der späteren Rezeption behaupteten (und durch Textkompilationen suggerierten) Ausformulierung einer Philosophie des historischen Materialismus belegen die Manuskripte gerade die programmatische Abkehr von der Philosophie zugunsten der „wirklichen positiven Wissenschaft“.