Karl Marx / Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA) Herausgegeben von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam. Dritte Abteilung: Briefwechsel. Bd. 10: September 1859 bis Mai 1860. Bearb. von Galina Golovina, Tat'jana Gioeva, Jurij Vasin und Rolf Dlubek. Berlin: Akademie Verlag 2000. XVII + 1.269 S. | 29 Abb. | ISBN 978–3–05–003486–7.
Briefe historischer Persönlichkeiten sind eine unschätzbare Quelle zur Politik- und Ideengeschichte, erst recht aber „Briefwechsel zweier oder mehrerer durch Thätigkeit in einem gemeinsamen Kreise sich fortbildender Personen“. Dieses Urteil Goethes gilt auch für die Korrespondenz von Marx und Engels. Bereits über die 1913 erschienene vierbändige Erstausgabe des Briefwechsels zwischen beiden schrieb der Historiker Hermann Oncken, man werde „in den weitest gespannten Rahmen der Weltpolitik und Weltwirtschaft versetzt, Klatsch und Zank des Tages wechseln mit den Tiefen philosophischer Spekulation und ökonomischer Einsicht. Diplomatie und Krieg aller Völker, die Interna der englischen Politik ..., der leidenschaftlich verfolgte Gang unserer deutschen Entwicklung in den Jahrzehnten der Einigung ...; was zieht nicht an Menschen, an Namen und Namenlosen hier vorüber“. Die Korrespondenz von Marx und Engels umfaßt insgesamt etwa 20 000 Briefe, von denen nach dem jetzigen Wissensstand 14 345 erhalten sind. In der auf 35 Bände berechneten III. Abteilung der MEGA werden sie erstmals vollständig und nach den Prinzipien historisch-kritischer Edition veröffentlicht. Das Netzwerk persönlicher Verbindungen von Vertretern der Demokratie- und Arbeiterbewegung, in dem Marx und Engels wirkten, wird dadurch erst ganz überschaubar.
Nach der Unterbrechung von einem Jahrzehnt wird die Briefedition auf der Grundlage revidierter Editionsrichtlinien durch die Internationale Marx-Engels-Stiftung fortgeführt. Der vorliegende Band zeigt Marx und Engels in den politischer Auseinandersetzungen, die an der Wende von den 1850er zu den 1860er Jahren um die Lösung der 1848/49 unvollendet gebliebenen Aufgaben der bürgerlichen Umgestaltung, vor allem um die nationale Einigung Deutschlands, geführt wurden. Nach Beginn eines neuen politischen Aufschwungs schwoll ihr Briefwechsel derartig an, daß der Band nur die Korrespondenz eines dreiviertel Jahres faßt. Er enthält 300 Briefe, und von den 186 an Marx bzw. Engels gerichteten werden 128 erstmals veröffentlicht, darunter Briefe von Johann Philipp Becker, Elard Biskamp, Sigismund Borkheim, Ernst Dronke, Peter Imandt, Ernest Jones, Wilhelm Liebknecht, Georg Lommel, Karl Schapper, Victor Schily, Carl Siebel, Joseph Weydemeyer und Wilhelm Wolff.
Die Briefe zeigen, wie Marx und Engels nach einer langen Reaktionsperiode ihren Anhängern auf dem linken Flügel der demokratischen Bewegung wieder Gehör zu verschaffen und einem neuen Anlauf der Arbeiterbewegung vorzuarbeiten suchen. Sie dokumentieren die Wiederherstellung von Verbindungen zu dem traditionsreichen Londoner Arbeiterbildungsverein durch Marx, seine Bemühungen zur Fortsetzung des Werks „Zur Kritik der politischen Oekonomie“, die Entstehung und Wirkung der Broschüre „Savoyen, Nizza und der Rhein“, in der Engels die Annexion italienischen Territoriums durch das bonapartistische Frankreich verurteilt, und Marx' und Engels’ Mitarbeit an der „New-York Tribune“, in der sie ihre Beurteilung der ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklungen in den wichtigsten Ländern darlegen können.
Eine Reihe von Briefen zeigt, wie es zu heftigen Auseinandersetzungen Marx' mit Lassalle kommt, der nicht mehr einfach sein Gefolgsmann, sondern ein gleichrangiger Partner sein will und die politische Situation in Deutschland besser zu beurteilen beansprucht, als es von England aus möglich ist. In dieser Zeit fällt auch die politische Trennung Ferdinand Freiligraths von Marx, da sich der Dichter von jeder Parteibindung mit der Erklärung lossagt: „Meiner, u. der Natur jedes Poeten thut die Freiheit Noth! Auch die Parthei ist ein Käfig, u. es singt sich, selbst für die Parthei besser draus als drin.“ Zugleich schließt Marx viele alte Kampfgefährten wieder enger um sich zusammen und gewinnt auch neue Anhänger.
Der Band dokumentiert vor allem die ersten Monate der Vorbereitung des Pamphlets „Herr Vogt“, Marx' umfangreichster und zugleich umstrittensten politischer Streitschrift. In den Briefen treten die Motive zutage, die Marx zu einer ausgedehnten und außerordentlich scharfen Polemik gegen den ehemaligen Reichsregenten, angesehenen Naturforscher und agilen politischen Publizisten veranlassen. Vor allem zeigen die zahlreichen erstmals veröffentlichten Briefe deutlicher, als bisher erkennbar war, daß er in der Auseinandersetzung mit den politischen und persönlichen Verleumdungen, durch die Vogt die Anklage wegen probonapartistischer Betätigung beantwortet hat, die Gefahr einer politischen Isolierung abwenden kann. Viele Männer, die Marx dabei aktiv unterstützen oder sich ihm erstmals anschließen, gehören später zu seinen wichtigsten Mitstreitern in der I. Internationale.
Die in dem Band publizierte Korrespondenz veranschaulicht nicht zuletzt die schwierigen persönlichen Lebensbedingungen, unter denen Marx und Engels Ende 1859/Anfang 1860 ihre politischen Positionen behaupteten und ausbauten. Jenny Marx berichtet über ihre „langjährigen Secretariatsdienste“ für Marx, bei denen sie ihre älteste Tochter, die 16jährige Jenny, zu entlasten beginnt. Die Briefe von Engels bezeugen ebenso seine uneigennützige Unterstützung für den Freund und dessen Familie wie die außerordentliche Arbeitskraft, mit der er ungeachtet seiner beruflichen Tätigkeit im Kontor der Firma Ermen und Engels in Manchester seine militärtheoretischen Kenntnisse vervollkommnet, umfangreiche Sprachstudien treibt und Darwins Werk „On the origin of species ...“ schon unmittelbar nach dessen Erscheinen liest und würdigt. Zu den Erstveröffentlichungen gehören auch zahlreiche Briefe des Vaters, der Mutter sowie der Brüder und Schwäger an Engels, die ein lebendiges Bild vom Leben seiner vielköpfigen Verwandtschaft, einer ebenso geschäftstüchtigen wie gottesfürchtigen rheinischen Industriellenfamilie, vermitteln.