I/14 M/E: Werke · Artikel · Entwürfe.

Januar bis Dezember 1855. (Publizistik: New-York Tribune, neue Oder-Zeitung) 2001.

Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). Herausgegeben von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam. Erste Abteilung: Werke. Artikel. Entwürfe. Band 14: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Artikel, Entwürfe. Januar bis Dezember 1855. Bearbeitet von Hans-Jürgen Bochinski und Martin Hundt unter Mitarbeit von Ute Emmrich und Manfred Neuhaus. Akademie-Verlag, Berlin 2001. XV und 1695 S. (831 S. Textband, 864 S. Apparatband). Mit 13 Illustrationen 188,– EUR ISBN 978–3–05–003610–6.

Der Band dokumentiert eine von der tradierten Forschung und Rezeption eher stiefmütterlich behandelte Komponente des Schaffens von Marx und Engels: ihre Korrespondententätigkeit für die „New-York Tribune" und die Breslauer „Neue Oder-Zeitung" im Jahre 1855, insgesamt 200 Artikel und Entwürfe, darunter 33 Texte, die erstmals in einer Ausgabe ihrer Werke veröffentlicht werden. Marx und Engels waren ein reichliches Jahrzehnt, von 1851 bis zum Ausbruch des amerikanischen Bürgerkrieges, Leitartikler einer der größten und einflußreichsten Zeitungen der Welt. Von dem späteren Präsidentschaftskandidaten Horace Greeley gegründet und von Charles Dana, dem künftigen Nachrichtendienstchef der Union redigiert, galt die „New-York Tribune" als Geburtshelferin der Republikanischen Partei. 1854 betrug ihre Gesamtauflage 152.280 Exemplare, womit sie selbst die berühmte Londoner "Times" übertraf. Dieser Erfolg wurde diesseits des Atlantik, nicht zuletzt in preußischen Amtsstuben, aufmerksam registriert: „Die New-York Tribune Zeitung und Wochenblatt", berichtete die Zentralpressestelle dem Innenminister, „ist ein Organ der whigistischen Parthei, gefällt sich aber sonderbarer Weise in socialistischen Extravaganzen".

Etwa die Hälfte der in der Regel mit 2 Pfund Sterling honorierten 500 Manuskripte des ungewöhnlichen Journalistenduos Marx / Engels hat Charles Dana als ungezeichnete Leitartikel veröffentlicht und das Gerücht lanciert, die aufsehenerregenden Militärkolumnen darunter seien von General Winfield Scott verfaßt. Daß ihr tatsächlicher Autor als Manager eines mittelständischen Textilunternehmens im fernen Manchester tätig war und Friedrich Engels hieß, dürfte nur wenigen Zeitgenossen bekannt gewesen sein.

Der Band enthält vergleichsweise viele, nämlich insgesamt 33 bisher unbekannte Texte. So werden auf der Grundlage von Handschriften erstmals der Entwurf zu Marx' Artikel „The commercial crisis in Britain" und zwei Planentwürfe von Engels für Artikelserien über den Panslawismus abgedruckt. Diese Texte werden erstmals bzw. erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht. Außerdem werden 20 durch Autorschaftsuntersuchungen neu ermittelte Artikel aus der „New-York Daily Tribune" - davon 19 von Engels über den Verlauf des Krimkriegs und einer von Marx über die Geschichte der diplomatischen Beziehungen zwischen Großbritannien und Rußland – hier erstmals publiziert. Schließlich sind die zehn dubiosen Beiträge des Anhangs zu nennen, alle ebenfalls aus der „New-York Daily Tribune".

Das Themenspektrum der Korrespondenzen umfaßt die großen Fragen der europäischen Politik sowie Kriegskunst, Militärgeschichte, Konjunkturbeobachtung und Parlamentsberichterstattung: Behandelt werden der aktuelle Verlauf des Krimkriegs in seiner letzten Phase, militärtaktische, -theoretische und -historische Probleme sowie – von Marx als Autor – zeitgenössische politische, ökonomische und gesellschaftliche Vorgänge in Großbritannien, in geringerem Maße in Frankreich und anderen Ländern. Dem in Fortsetzungen gelieferten Essay von Marx über Lord Russell kann gar literarischer Rang zugesprochen werden. Auch Marx' differenzierte Auseinandersetzung mit dem parlamentarischen System Großbritanniens kann nunmehr im Zusammenhang studiert werden. Das gilt insbesondere für seine Äußerungen zum Parteienwesen, zur Rolle der parlamentarischen Opposition und der öffentlichen Meinung sowie zum Pressewesen.

Da nur für etwa zehn Monate des Jahres 1855, dem Zeitraum von Marx' Mitarbeit an der „Neuen Oder-Zeitung", eine Parallelarbeit zu den Korrespondenzen für die NYT stattfand, bietet der Vergleich der betreffenden Beiträge für beide Zeitungen einen so kaum wieder möglichen Einblick in die journalistische Arbeitsweise von Marx und Engels. Da aufgrund der Editionsprinzipien die englisch- und die deutschsprachigen Korrespondenzen auch bei teilweise weitgehender inhaltlicher Übereinstimmung vollständig abgedruckt werden, können die beiden Fassungen der betreffenden Artikel erstmals im Vergleich studiert werden.

Der Krimkrieg, das lassen die hier dargebotenen Korrespondenzen erahnen, hätte sich potentiell zum ersten Weltkrieg ausweiten können. Es war nicht nur der erste Stellungskrieg der Geschichte, es wurden auch erstmals Eisenbahnen, Panzerschiffe und moderne Kommunikationsmittel wie der elektrische Telegraf zur Kriegführung eingesetzt. Alle wesentlichen Etappen des Kriegsverlaufs werden von Marx und Engels als Zeitgenossen sachkundig analysiert. Der vorliegende Band erschließt daher auch einen wichtigen Teil von Engels' militärwissenschaftlichen Arbeiten, deren Potential wohl von der Forschung bis heute nicht ausgeschöpft ist. Etwa die Hälfte der neu ermittelten Artikel von Engels behandeln die Kampfhandlungen in Transkaukasien, am Inguri und um die Festung Kars. Sie leiten inhaltlich zu Marx' Artikelserie „The fall of Kars" vom März/April 1856 über, mit der Marx' und Engels' Kommentierung des Krimkriegs dann endgültig abschloß.

Einen weiteren Schwerpunkt bilden die beiden Entwürfe von Engels zu geplanten Artikelserien bzw. für eine Broschüre gegen den Panslawismus. Diese Polemik zieht sich durch die Artikel des Jahres 1855 hindurch und wird auch in der Band-Einführung thematisiert. Das Auftreten von Marx und Engels gegen den Panslawismus, lange Zeit nicht in seiner Bedeutung und seinen Zusammenhängen gewürdigt, kulminierte im Jahre 1855. Die im vorliegenden Band enthaltenen Texte zu dieser Problematik können theoriegeschichtliches, aber auch aktuelles Interesse beanspruchen, finden sich doch hier wichtige Überlegungen zur Rolle und Bedeutung des Nationalismus und der Nationalbewegungen.

Der neue Band bildet zusammen mit den vorangegangenen Bänden I/10 bis I/13 eine chronlogisch zusammenhängende Gruppe von fünf Bänden mit den Schriften von Mitte 1849 bis Ende 1855 – eine Periode, für die auch der Briefwechsel und ein Teil der Exzerpte bereits in der MEGA vorliegen. Lückenlos kann nun verfolgt werden, wie Marx und Engels das Scheitern der europäischen Revolution von 1848/49 theoretisch verarbeiteten, wie sie ihre Ansichten fortbildeten und neue Gesichtspunkte hinzutraten. Es wird deutlicher, daß dieses Um- und Neudenken nicht - wie in der Literatur oft dargestellt – auf eine kurze Phase ihres Wirkens, bis etwa zum „18. Brumaire des Louis Bonaparte", begrenzt war.

Zur Verarbeitung des Revolutionsergebnisses gehörte Marx' Wiederbeginn der unterbrochenen ökonomischen Studien sowie deren zeitweilige erneute Unterbrechung von etwa 1852/1853 bis 1857, als die Arbeit an den „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie" begann. Das Jahr 1855 lag in dieser „Lücke", aber dennoch finden sich im vorliegenden Band in Marx' Beiträgen zu wirtschaftlichen und sozialen Ereignissen in Großbritannien Hinweise, die von seiner weiteren Beschäftigung mit diesem Thema, etwa mit der Kolonisationstheorie, zeugen und die später im „Kapital" wiederbegegnen. Diese Zusammenhänge werden durch den Apparat erschlossen.

Ein wesentliches Merkmal Marxschen Nachdenkens nach 1849 ist die konsequente Ausweitung des Blicks über Europa hinaus. Ende 1855 mehren sich deutlich die Zeichen für ein zentrales Interesse von Marx an Außenpolitik bzw. an Geschichte der Diplomatie. Zu den erstmals in Band I/14 enthaltenen Arbeiten gehört ein wahrscheinlich von Marx verfaßter Beitrag über den Beitritt Schwedens zur englisch-französischen Allianz gegen Rußland im November 1855. Marx studierte bereits zu dieser Zeit Literatur zur Geschichte der weltumspannenden britisch-russischen Beziehungen, was in den folgenden Jahren bis 1863 zu umfangreichen Arbeiten wie den Enthüllungen über die Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts und den sog. polnischen Manuskripten führte.

Der Leser blickt, dies dürfte den besonderen Reiz des Bandes bestimmen, in die Schreibwerkstatt eines Journalistenduos, das gleichzeitig für ein Millionenpublikum in den Staaten und für eine der Zensur unterworfene preußische Regionalzeitung korrespondiert, ohne für die Leserschaft aus der Anonymität herauszutreten.

Neben einer Einführung, zwei ausführlichen Allgemeinen Textgeschichten zu Marx' und Engels’ Mitarbeit an der NYT im Jahre 1855 und zu Marx’ Mitarbeit an der „Neuen Oder-Zeitung" sowie den Apparaten zu den einzelnen Texten enthält der Band ein Verzeichnis der nicht überlieferten Arbeiten, ein Literaturregister, ein Verzeichnis der im Apparat ausgewerteten Quellen und der benutzten Literatur, ein Namenregister, ein Geographisches Register und ein Sachregister.