IV/18 M/E: Exzerpte und Notizen.

Februar 1864 bis Oktober 1868, November 1869, März, April, Juni 1870, Dezember 1872. 2019.

Karl Marx / Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). Herausgegeben von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES), Amsterdam. Vierte Abteilung: Exzerpte und Notizen. Februar 1864 bis Oktober 1868, November 1869, März, April, Juni 1870, Dezember 1872. Bearbeitet von Teinosuke Otani, Kohei Saito und Timm Graßmann. Berlin / Boston: De Gruyter Akademie Forschung 2019. XVI + 1294 S. | 38 Abb. |  ISBN 978-3-11-058369-4.

Im neuen Band IV/18 der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) werden rund 800 Seiten mit Exzerptheften von Karl Marx zur Agrarwissenschaft und zur politischen Ökonomie erstmals veröffentlicht.

Die Exzerpte zeigen einen mit Naturwissenschaften und ökologischen Fragen beschäftigten Marx und korrigieren so das Bild vom fortschrittsgläubigen Denker mit einem rein funktionalistischen Natur- und Ressourcenverständnis. Die Manuskripte wurden während der Abfassung des ersten Bandes des „Kapital“ und im Laufe der Vorbereitung und Überarbeitung des zweiten und dritten Buchs des „Kapital“ angefertigt. Der Großteil der Exzerpte behandelt das Themenfeld Agrikultur: die Theorie der Grundrente, Naturwissenschaften wie Agrikulturchemie, Geologie und Botanik, das Problem der Bodenerschöpfung, die landwirtschaftlichen Verhältnisse in Ländern wie Großbritannien, USA, Frankreich, Japan, Russland, Irland und Indien sowie das Grundeigentum und die Agrarverfassungen in vorkapitalistischen Gesellschaften.

Am Beginn dieser Studien stehen Marx’ umfangreiche Auszüge aus Justus von Liebigs „Agriculturchemie“. Liebig reagierte hier auf das damals voranschreitende, u.a. aus der landwirtschaftlichen Intensivierung resultierende Problem der Bodenerschöpfung. Er trug dazu eine gründliche Kritik des modernen landwirtschaftlichen Systems als „Raubwirthschaft“ vor und griff hierbei auf den Begriff der „Nachhaltigkeit“ zurück. Die moderne Landwirtschaft entnehme dem Boden pflanzliche Nahrungsstoffe, ohne sie ihm zurückzugeben, weil der Landwirt sich nur kurzsichtig für seinen Profit interessiere und somit die Bodenfruchtbarkeit schnell abnehme, ohne Rücksicht auf zukünftige Generationen. Auch würde die Bodenfruchtbarkeit durch die Ausbildung des Stadt-Land-Gegensatzes verletzt, denn die in der Stadt verbrauchten Bodenbestandteile kehrten nicht in die Böden zurück, sondern würden als Abwasser in den Flüssen der Metropolen landen. Er warnt vor einem Zeitalter der Hungersnöte, Rohstoffkriege und dem Zerfall der europäischen Zivilisation.

Ebenso intensiv wie die Debatten um die Liebig’sche Theorie der Bodenerschöpfung verfolgte Marx andere Autoren und Studien, um Aspekte der ökologischen Krise zu untersuchen. Angesichts der zunehmend industrialisierten Tierhaltung bemerkt er etwa: „In diesen Gefängnissen werden die Thiere geboren u. bleiben drin bis sie are killed off. Die Frage ist, ob dieß System, verbunden mit dem der Züchtung, das die Thiere abnormal entwickelt, u. ihre Knochen unterdrückt hat, um sie in blosse Fleisch- u. Fettmassen zu verwandeln, […] nicht schließlich den Grund zu grossem Verderb der Lebenskraft legen muß?“

Unter den rezipierten Autoren ragt der Agrarwissenschaftler Carl Fraas hervor. Marx findet in Fraas’ Schriften eine ausführliche Erklärung eines innerhalb von Jahrhunderten durch menschliche Tätigkeit herbeigeführten lokalen Klimawandels. Fraas’ Untersuchung in „Klima und Pflanzenwelt in der Zeit“ zeigt, dass Südeuropa durch die antike Zivilisation ruiniert wurde, indem eine flächendeckende und exzessive Abholzung das lokale Klima veränderte, steigende Temperaturen und Trockenheit hervorrief und somit die Böden und den Wasserhaushalt zerstörte. Dies trieb die Pflanzen in die Migration von Süden nach Norden und von den Ebenen in die Berge. Die Zivilisation lässt „Wüsten hinter sich zurück“, fasst Marx die Fraas’schen Erkenntnisse zusammen.

Der neue MEGA-Band bietet nicht nur Einblicke in die „ökologischen“ Probleme und Debatten des 19. Jahrhunderts. In Bezug auf Marx kann verfolgt werden, wie er die neuesten Erkenntnisse der Klimatologie und Physiologie für seine gesellschaftskritischen Analysen nutzte. So beruhen wichtige Schlussfolgerungen im „Kapital“ auf der Liebig-Rezeption: „Mit dem stets wachsenden Uebergewicht der städtischen Bevölkerung, die sie in großen Centren zusammenhäuft, häuft die kapitalistische Produktion einerseits die geschichtliche Bewegungskraft der Gesellschaft, stört sie andrerseits den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde, d.h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs- und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandttheile zum Boden, also die ewige Naturbedingung dauernder Bodenfruchtbarkeit. Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter.“ Auch der Gedanke der Generationen-Gerechtigkeit findet sich bereits bei Liebig: „Was durch den Verwitterungsprozeß an Nährstoffen jährlich wirksam wird u. der vorhandnen Menge im Boden zuwächst, ist für den Zuwachs der Bevölkerung bestimmt, u. es ist geradezu die Verletzung eines der weisesten Naturgesetze, wenn die gegenwärtige Generation glaubt, ein Anrecht auf deren Zerstörung zu besitzen.“ Davon inspiriert schrieb Marx: „Von dem Standpunkt einer höhern ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigenthum einzelner Individuen an dem Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen wie das Privateigenthum eines Menschen auf einen andern Menschen. Selbst eine Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen sind nicht Eigenthümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer […] und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“

Marx folgerte, dass es keine Rehabilitierung des „Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur“ geben werde, solange alle stofflichen Aspekte nur eine Nebensache des eigentlichen Produktionszweckes – der Vermehrung des Kapitals – bleiben. Mit dem internationalen Warenhandel schreite der Raubbau fort und werde, so Marx, „einen unheilbaren Riß“ im Stoffwechsel zwischen Menschen und Natur hervorbringen, in dessen Folge „die Bodenkraft verwüstet und durch den Handel diese Verwüstung weit über die Grenzen des eignen Lands hinaus getragen wird. (Liebig)“. Marx formulierte somit die Gefahr der Erweiterung des Risses im natürlichen und gesellschaftlichen Stoffwechsel infolge der Globalisierung. Dadurch werde eine nachhaltige Produktion schlechthin unmöglich. Er sah die Rehabilitierung dieses Stoffwechsels als eine Aufgabe an, die nur von sozialistischen Gesellschaften zu lösen sei.

Im Zusammenhang mit weiteren in der MEGA erstmals veröffentlichten Exzerpten zur Geologie (Bd. IV/26) und Chemie (Bd. IV/31) dokumentieren die jetzt veröffentlichten Manuskripte die intensive Beschäftigung von Marx mit Naturwissenschaften; sie stellen damit zugleich neue Quellen für die insbesondere in den USA in den letzten Jahren geführte „Metabolismus“-Debatte zur Verfügung.

MEGA IV/18 wurde in deutsch-japanischer Forschungskooperation in Berlin, Osaka und Tokyo bearbeitet.