Karl Marx / Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). Herausgegeben von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. - Vierte Abteilung: Exzerpte, Notizen, Marginalien. Vorauspublikation zu Band 32: Die Bibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels. Annotiertes Verzeichnis des ermittelten Bestandes. Bearbeitet von Hans-Peter Harstick, Richard Sperl und Hanno Strauß unter Mitarbeit von Gerald Hubmann, Karl-Ludwig König, Larisa Mis'kevich und Ninel' Rumjanceva. Berlin: Akademie Verlag 1999. 738 S. | 32 Abb. | ISBN 978–3–05–003440–9.
Die Bibliotheken bedeutender Autoren, Künstler und Gelehrter stehen seit langem im Blickfeld von Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Rezeptions- und Leserforschung. Zu den großen Autoren, deren Buchbesitz und Lektüren besonders neugierig machen, dürften neben Voltaire, Nietzsche, Freud und Aby Warburg auch Marx und Engels gehören. „Bookworming" - „in Büchern wühlen" - sei seine Lieblingsbeschäftigung, hatte Marx der ältesten Tochter Jenny auf die entsprechende Frage eines beliebten Gesellschaftsspiels im Dezember 1867 bekannt. „Du wirst Dir sicher einbilden, mein liebes Kind, daß ich Bücher sehr liebe, weil ich Dich zu einer so ungelegenen Zeit damit belästige", schrieb er einige Monate darauf seiner in Paris die Flitterwochen verbringenden Tochter Laura, um dann mit dem Unterton bitterer Selbstironie fortzufahren: „Aber Du wärst sehr im Irrtum. Ich bin eine Maschine, dazu verdammt, sie zu verschlingen und sie dann in veränderter Form auf den Dunghaufen der Geschichte zu werfen."
Im Akademie Verlag, der seit 1979 das Marginalienkorpus der siebentausend Bände umfassenden Bibliothek Voltaires veröffentlicht, erscheint am 16. Dezember das Bestandsverzeichnis der Bibliotheken von Marx und Engels. Als Ergebnis eines dreiviertel Jahrhunderts Forschungs- und Sucharbeit dokumentiert der neue MEGA-Band die Mitte der 1920er Jahre im Berliner Parteiarchiv der SPD begonnene und im Zuge der Weiterführung der Marx-Engels-Gesamtausgabe unter den Auspizien der Internationalen Marx-Engels-Stiftung Amsterdam und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vorgenommene Rekonstruktion des Buchbesitzes von Marx und Engels. Mit 1 450 wiederaufgefundenen Titeln ex libris Marx und Engels in mehr als 2 100 Bänden konnten annähernd zwei Drittel des angenommenen ursprünglichen Bestandes ihrer Bibliotheken identifiziert werden. Von diesen 2 100 Bänden enthalten 800 auf ca. 40 000 Buchseiten Anstreichungen und Randbemerkungen von Marx und Engels, die viele Details ihrer biographie intellectuelle und der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts erhellen. Sie bezeugen, daß Marx im Umgang mit Literatur ein Wahlverwandter Voltaires, ein leidenschaftlicher Leser nicht nur im Hinblick auf den immensen Umfang und die Vielseitigkeit seiner Studien, sondern auch im Sinne einer ungemein impulsiven Lektürepraxis war.
Als Marx starb, übernahm Engels den Hauptbestand der Büchersammlung seines Freundes und vereinigte ihn mit seiner eigenen Bibliothek. Um diese „in ihrer Gesamtheit so einzigartige und zugleich so vollständige Bibliothek für die Geschichte und das Studium des modernen Sozialismus sowie aller Wissenschaften, an die er anknüpft" (Engels an Laura Lafargue und Eleanor Marx-Aveling, 14. November 1894) im Interesse künftiger Nutzer zusammenzuhalten, vermachte sie Engels letztwillig der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Nach Engels' Tod größtenteils in der Bibliothek der SPD in Berlin aufgegangen, nach Beschlagnahme des sozialdemokratischen Parteivermögens 1933 zerstreut und in internationaler Sucharbeit nunmehr rekonstruiert und als Katalog beschrieben, repräsentieren die Privatbibliotheken von Marx und Engels den Typus der Gelehrtenbibliothek des 19. Jahrhunderts: Sie sind Universalbibliotheken, keine Spezialbibliotheken, spiegeln allerdings das Emigrantenschicksal ihrer Besitzer und können nicht ohne die Bibliotheksstandorte London und Manchester gedacht werden. Was Marx und Engels als Frucht ihres ungewöhnlichen Lesehungers lebenslang an Büchern zusammengetragen haben, waren Arbeitsbibliotheken, dazu geschaffen, das für die eigene wissenschaftliche, publizistische und politische Tätigkeit Benötigte rasch greifbar zu haben und die intensive Nutzung öffentlicher Bibliotheken, im Falle von Marx insbesondere des berühmten British Museum, zu ergänzen. Im Laufe der Jahrzehnte hatten sich seine Bücherregale, aufbauend auf einem Grundstock aus der väterlichen Bibliothek, ergänzt durch Erwerbungen und durch Geschenke von Freunden, Schriftstellern und Wissenschaftlern aus aller Welt, mit Ausgaben bedeutender Werke der Ökonomie und Wirtschaftsgeschichte, der Philosophie, der Sozial-, aber auch der Naturwissenschaften, der allgemeinen Geschichte sowie der Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung gefüllt. Neben Lexika sowie Wörter- und Lehrbücher verschiedener Sprachen, haben Marx und Engels Memoiren und Biographien, literaturwissenschaftliche Abhandlungen und viel Klassisches aus dem Bereich der schönen Literatur zusammengetragen. Während Marx' besonderes Interesse Veröffentlichungen zur Sozial-, Wirtschafts- und Agrargeschichte sowie zu Gegenwartsproblemen Rußlands galt, sammelte Engels vor allem militärwissenschaftliche Publikationen.
Insgesamt finden sich in den rekonstruierten Bibliotheken Bücher in zehn Sprachen, ein reichliches Drittel des Bestandes sind deutschsprachige Titel. Jeweils ein Viertel der Bücher sind englisch- und französischsprachig, daneben stellen 232 Titel in kyrillischer Schrift (16%) einen vierten sprachlichen Schwerpunkt dar.
Nach Autorenhäufigkeit analysiert, ergibt sich folgendes Bild: Spitzenreiter ist mit 16 Einzeltiteln ein Autor der frühen sozialen Bewegung, der englische Fabrikant und Sozialreformer Robert Owen. An zweiter Stelle steht Marx' Mentor im Kreis der Hegelschen Linken, der radikale Theologe und Religionskritiker Bruno Bauer mit 15 Publikationen. Mit jeweils 14 Einzelschriften folgen an dritter Stelle Marx' und Engels' „scientific friend", der russische Staatsrechtler und vergleichende Rechtshistoriker Maksim Maksimoviè Kovalevskij und gleichauf mit ihm der "représentant reconnu" der russischen revolutionären Bewegung im Ausland, Petr Lavroviè Lavrov. Der russische Revolutionär und politische Gegner Michail Aleksandroviè Bakunin nimmt den vierten Rang (zwölf Einzeltitel) ein; einer der wichtigsten Autoren des jungen Marx, von dem er sich 1847 mit seiner Streitschrift „Misère de la philosophie" intellektuell gelöst hat, Pierre-Joseph Proudhon, ist mit elf Schriften vertreten. An sechster Stelle folgen gleichauf mit jeweils zehn Titeln Marx' politischer Freund und Rivale Ferdinand Lassalle, der italienische Ökonom und Publizist Achille Loria und der turkophile Tory David Urquhart. Es schließen sich an der britische Agrarwissenschaftler William Marshall mit acht sowie Edward Bibbins Aveling, Ernest Belfort Bax, Nikolaj Gavrilovich Chernyshevskij, Gabriel Deville und Eugen Dühring mit jeweils sieben Einzeltiteln. Mit sechs Titeln sind vertreten der langjährige russische Briefpartner und „Kapital"-Übersetzer Nikolaj Francevich Daniel'son, der Nachfolger Lassalles im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein Bernhard Becker, der persönliche Freund und Professor der Chemie in Manchester Carl Schorlemmer sowie der geistige Ausgangspunkt des jungen Marx, das Werk Georg Wilhelm Friedrich Hegels.
Für die Verzeichnung des Buchbestandes Marx/Engels wurde eine alphabetische Anordnung nach Verfassern bzw. nach Sachtiteln gewählt, die durch ein Sachgebietsverzeichnis und durch ein annotiertes Autorenregister zusätzlich erschlossen ist. Der ausführlichen bibliographischen Beschreibung und Standortbezeichnung jedes überlieferten Exemplars folgen Angaben über Widmungen, Eigentumsvermerke und Aufschriften sowie die Aufführung der ca. 40000 Buchseiten, die Lesespuren, d.h. textliche und graphische Marginalien von Marx und Engels aufweisen. Außerdem wird ein Bezug zu ihrem Lesefeld hergestellt. Die Bearbeiter dokumentieren, ob der betreffende Titel in den überlieferten Marxschen Teilverzeichnissen seiner Bibliothek aufgeführt ist, Exzerpte vorliegen und die wiedergefundenen Bücher in Werken, Manuskripten oder Briefen von Marx oder Engels – soweit in den bisher erschienenen MEGA-Bänden bzw. in der Werkausgabe (MEW) publiziert – erwähnt und verwertet worden sind. Die wechselvolle Geschichte, den Aufbau und die Rekonstruktion dieser ungewöhnlichen Büchersammlung werden in einer Einführung detailliert nachgezeichnet.
Das annotierte Verzeichnis des ermittelten Bestandes der Bibliotheken von Marx und Engels ist nicht nur ein Quellenfundus für die Marx-Engels-Forschung, sondern bietet allen an Wissenschafts-, Bibliotheks-, Literatur- und Rezeptionsgeschichte Interessierten wichtige Informationen. Es entstand in deutsch-russischer Forschungskooperation an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften als Vorauspublikation zum MEGA-Band IV/32, der den Bibliothekskatalog durch die kontextbezogene Edition der textlichen Marginalien sowie wissenschafts- und werkgeschichtliche Kommentare auf der Grundlage der dann vollständig vorliegenden Gesamtausgabe ergänzen wird.